Part2 – “Hilfe, wo ist mein Therapeut? Zahlen, Daten, Fakten zur aktuellen Therapeutenlage in Deutschland?””

Wie im ersten Teil versprochen geht es nun – da Sie uns kurz kennengelernt haben – mit Zahlen, Daten und Fakten los. Danach blicken wir noch auf das Thema Psychotherapie in den Zeiten der Corona-Krise.

Marcus Rübbe (im Folgenden Marcus): Ihr beiden habt den Artikel aus der Augsburger Allgemeinen ebenso gelesen. Anscheinend haben es Betroffene oft schwer, einen Therapieplatz zu finden. Manchmal warten sie Monate auf ein Erstgespräch. Wie ist aus eurer Perspektive die aktuelle Lage? Habt ihr konkrete Zahlen?

Florian Schefenacker (im Folgenden Florian): Laut dem statistischen Bundesamt beträgt unser aktueller Bevölkerungsstand etwa 83 Millionen[1]. Im Laufe ihres Lebens erkranken über 42% aller in Deutschland lebenden Menschen an einer psy-chischen Erkrankung[2]. Bei unserem aktuellen Bevölkerungsstand entspricht dies 35,5 Tausend Menschen!

Marcus: Diese Zahl bezieht sich wahrscheinlich auf die gesamte Lebensdauer von soweit ich weiß im Durchschnitt ca. 79 Jahren bei Männern und knappen 83 bei Frauen. [3] Kann man sagen, wie die jährliche Verteilung aussieht?

Florian: Jährlich betrachtet dürfte die hoffnungsvolle, „Mich-wird-es-eh-nie-erwischen-rosa-Welt-super-Brille“ einen hässlichen Graustich bekommen: Fast 28% (ca. 23.018.700) [4] der deutschen Einwohner sind jährlich von einer psychischen Störung betroffen! Bei einer vierköpfigen Familie erwischt es durchschnittlich also etwa ein Familienmitglied.

Marcus: Unglaublich, das sind große Zahlen. Könnt ihr etwas darüber sagen, welche psychischen Erkrankungen am häufigsten vorkommen?

Nicole Rübbe (im Folgenden Nicole): Am häufigsten verbreitet sind Angst- (15,3 %) und depressive Störungen (7,7 %), gefolgt von Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (5,7 %)[5]. Um mal einen Eindruck von der Anzahl der Betroffenen zu bekommen: Bei Personen mit Angsterkrankungen sind das über 3 ½ Millionen Menschen. Diese Anzahl entspricht fast einer Stadt der Größe Berlins[6]. Und zwar jedes Jahr!

Marcus: Kann man hinsichtlich der depressiven Störungen ähnliche Vergleiche anstellen?

Nicole: Ja klar, beispielsweise wurden 2016 über 260.000 Menschen im Krankenhaus wegen Depressionen behandelt bei etwa 82 Millionen Einwohner in Deutschland[7]. Verglichen mit dieser Gesamtzahl sind das nicht viele. Da Depressionen aber 7,7% [8] aller psychischen Störungen ausmachen, sind das jährlich fast 2 Millionen Menschen allein in Deutschland. Das heißt, dass jedes Jahr so viele Menschen an Depressionen erkranken, um damit eine Stadt etwa von der Größe Hamburgs zu füllen[9], eine gewaltige Zahl!

Marcus: Krass, das sind tatsächlich gewaltige Zahlen! Kommen wir noch einmal auf der Anzahl der zur Verfügung stehenden Therapeuten zurück. Wie genau sieht aktuell das Verhältnis von Menschen mit psychischen Erkrankungen und den zur Verfügung stehenden Therapeuten aus?

Florian: In der ambulanten Versorgung standen für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen 2018 insgesamt ca. 27.000 Psychotherapeuten zur Verfügung. Davon waren interessanterweise über 6.000 ärztliche Psychotherapeuten und knappe 21.000 psychologische Psychotherapeuten[10]. Konkret stehen also 27.000 Therapeuten über 23 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen gegenüber.

Marcus: Das ist ja wirklich heftig. Was für ein mega Ungleichgewicht zwischen den erkrankten Personen, sprich einem enormen Bedarf und den Behandlungsmöglichkeiten.

Florian: Das ist es. Ich denke, dass man anhand dieser Zahlen durchaus sagen kann, dass der Bedarf einfach nicht gedeckt werden kann. Denn wenn sich jeder der Betroffenen tatsächlich an einen ambulanten Psychotherapeuten wenden würde, kämen auf jeden dieser Therapeuten pro Jahr ca. 630 Patienten.

Gleichzeitig soll anhand von solchen Zahlen aber verdeutlicht werden, dass eine psychische Erkrankung kein Randgruppenphänomen ist und dass man damit keinesfalls allein dasteht.

Psychotherapie in Zeiten der Corona Krise

Marcus Rübbe (im Folgenden Marcus): Wie sieht es denn ganz aktuell zu Zeiten der Corona-Pandemie aus?

Nicole Rübbe (im Folgenden Nicole): Die aktuelle Situation aufgrund der Corona-Pandemie hat bei vielen Menschen zu weitreichenden Veränderungen geführt.

Marcus: Kannst du uns beispielhaft einige Veränderungen nennen?

Nicole: Hierzu gehören z.B. die Isolation aufgrund der Kontaktbeschränkungen und somit das Abgeschnittensein von Familie, Freunden und Arbeitskollegen. Zugleich leiden einige Familien unter dem vermehrten häuslichen Zusammensein und der ungewohnten Enge und Nähe, die sich daraus ergibt. Aber auch die Veränderungen der beruflichen Situation, beispielsweise durch die Arbeit im Home-Office oder Kurzarbeit können sich belastend auswirken. Oft kommen finanzielle Sorgen hinzu oder die Angst nahestehende Menschen anzustecken. All dies sind Aspekte, die auch bei gesunden Menschen Stress, Angst, Anspannung, Unruhe, Gereiztheit, Einsamkeit oder auch Niedergeschlagenheit hervorrufen können.

Marcus: Und wie sieht es aus, wenn man bereits von einer psychischen Erkrankung betroffen ist?

Florian Schefenacker (im Folgenden Florian): Besteht bereits eine psychische Erkrankung, so ist es möglich, dass die Corona-Pandemie bzw. die damit verbundenen Maßnahmen diese forcieren kann. Insbesondere bei Menschen, die bereits unter Ängsten, Panik, Zwängen oder Niedergeschlagenheit leiden, können sich die Symptome verstärken. So gibt es z.B. Klienten, bei denen sich depressive Tendenzen durch die Isolation und fehlenden sozialen Kontakte verstärken oder andere, die sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus trauen.

Marcus: Besteht in einem solchen Fall, wenn jemand nicht mehr das Haus verlässt, denn überhaupt die Möglichkeit therapeutische Unterstützung zu bekommen?

Nicole: Ja, auf jenen Fall. Zum einen haben viele Therapeuten mit Beginn der Corona-Krise ihr Angebot um Online-Sitzungen erweitert und bieten diese alternativ zu den Terminen in der Praxis an. Die betroffenen Personen bekommen somit Hilfe, ohne das Haus verlassen zu müssen. Zum anderen ist auch im Bereich der Psychotherapie vereinzelt und unter gewissen Voraussetzungen ein Hausbesuch möglich. Diesen bieten jedoch nicht alle Therapeuten an.

Marcus: Das klingt recht positiv. Wie ist denn eure Prognose für die Zukunft? Inwieweit wird sich der Bedarf an Therapie verändern?

Nicole: Wir gehen davon aus, dass sich bei einigen Menschen die bereits bestehenden Symptome und Krankheitsbilder verschlimmern können. Dies kann insbesondere bei Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder auch Zwangsstörungen der Fall sein. Leichte Tendenzen sind jetzt schon spürbar.

Marcus: Zwischenzeitlich sind ja bereits wieder viele Beschränkungen gelockert worden und die Isolation ist nicht mehr so stark, wie noch vor ein paar Wochen. Macht das einen Unterschied?

Florian: Die meisten Menschen sind sehr froh darüber, dass wieder ein bisschen das normale
Leben eingetreten ist. Man ist in seinem Handlungsspielraum nicht mehr so eingeschränkt, kann sich wieder freier bewegen und seine Freunde und Familie treffen. Dennoch kann es sein, dass die Folgen der Corona-Krise bei manchen Menschen erst in nächster Zeit sichtbar werden. Diese Folgen könnten z.B. ein Jobverlust, finanzielle Nöte, Streitigkeiten in sozialen Beziehungen (Partnerschaft, Freundschaft) mit der Folge der Trennung sein. Das könnte dann den Bedarf an psychologischer und therapeutischer Unterstützung ansteigen lassen.

Marcus: Wie wir aus dem Artikel aus der Augsburger Allgemeinen, den wir im ersten Teil unseres Interviews erwähnt hatten und anhand eurer erwähnten Zahlen wissen, kann es mehrere Monate dauern, bis man einen Therapieplatz bei einem psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten bekommt, der von der Krankenkasse übernommen wird. Welche weiteren Möglichkeiten für eine Therapie habe ich denn sonst noch?

Florian: Wie in dem Artikel schon erwähnt wurde, kann man sich an einen psychologischen Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung wenden. Bei diesem trägt man die Kosten der Therapie selbst.

Marcus: Gibt es noch weitere Möglichkeiten einer eigenfinanzierten Therapie?

Nicole: Ja, die gibt es. Und zwar besteht die Möglichkeit sich an einen Heilpraktiker für Psychotherapie zu wenden. Zu diesem Therapeutenkreis zählen auch Florian und ich.

Marcus: Was genau macht ein Heilpraktiker für Psychotherapie?

Nicole: Personen mit dieser Bezeichnung sind befugt Heilkunde im Bereich der Psychotherapie auszuüben. Das heißt, wir dürfen Leiden und psychische Erkrankungen bei Menschen feststellen, heilen oder lindern. Hierzu gehören natürlich entsprechende Kenntnisse in einem Psychotherapieverfahren, damit das Stellen einer Diagnose und die psychotherapeutische Behandlung möglich sind.

Marcus: Das heißt, Menschen mit beispielsweise einer Angststörung oder Depression können sich mit ihrem Therapiewunsch auch an einen Heilpraktiker für Psychotherapie wenden?

Florian: Ganz genau, es gibt eine Vielzahl von psychischen Störungen bzw. Erkrankungen, die wir therapieren können und dürfen. Gerade Klienten mit Ängsten und/oder depressiven Symptomen suchen häufig Unterstützung bei uns. Ganz wichtig ist an dieser Stelle, dass der Heilpraktiker für Psychotherapie seine Sorgfaltspflicht beachtet und zum Beispiel Klienten mit schwerwiegenden depressiven Symptomen an einen Arzt verweist.

Marcus: Warum ist hier das Hinzuziehen eines Arztes notwendig?

Nicole: Gerade bei schweren depressiven Episoden ist die zusätzliche Einnahme von
Medikamenten angeraten und in den meisten Fällen auch erforderlich. Als Heilpraktiker für Psychotherapie sind wir jedoch nicht berechtigt, Medikamente zu verschreiben. Dies darf nur ein Arzt oder Psychiater. Somit ist es wichtig, dass ein Heilpraktiker für Psychotherapie über gute diagnostische Fähigkeiten verfügt und rechtzeitig erkennt, wo es notwendig ist, einen Mediziner hinzuzuziehen.

Marcus: Wie ist das denn bei den psychologischen Psychotherapeuten? Dürfen die auch Medikamente verschreiben?

Florian: Die psychologischen Psychotherapeuten beschäftigen sich, wie die Heilpraktiker für Psychotherapie, schwerpunktmäßig mit der Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen. Auch sie dürfen keine Medikamente verschreiben und verweisen ebenfalls die Klienten, bei denen eine Medikamenteneinnahme notwendig erscheint, an einen Arzt bzw. Psychiater.

  • [1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/_inhalt.html [Zugriff 18.06.2020 14:13]
  • [2] Lieb, K. / Frauenknecht, S. / Brunnhuber, S. (2016): Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, 8. Auflage; Elsevier GmbH, München (S. 3)

  • [3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html [Zugriff: 18.06.2020 14:35]
  • [4] Lieb, K. / Frauenknecht, S. / Brunnhuber, S. (2016): Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, 8. Auflage; Elsevier GmbH, München (S. 3)

  • [5] https://www.thieme.de/de/psychiatrie-psychotherapie-psychosomatik/psychisch-kranke-menschen-deutschland-92051.htm [Zugriff: 13.06.2020 15:12]
  • [6] https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/stat_berichte/2020/SB_A01-05-00_2019h02_BE.pdf [Zugriff: 18.06.2020 15:14]
  • [7] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2018/PD18_11_p002.html [Zugriff: 18.06.2020 14:20]
  • [8] Lieb, K. / Frauenknecht, S. / Brunnhuber, S. (2016): Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, 8. Auflage; Elsevier GmbH, München (S. 3)

  • [9] https://www.statistik-nord.de/zahlen-fakten/bevoelkerung/bevoelkerungsstand-und-entwicklung/dokumentenansicht/bevoelkerung-in-hamburg-2018-61427 [Zugriff 18.06.2020 15:07]
  • [10] https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/154e18a8cebe41667ae22665162be21ad726e8b8/Factsheet_Psychiatrie.pdf [zugriff: 19.06.2020 15:21]

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NICOLE RÜBBE

Nicole Rübbe, Jahrgang 1982, studierte Germanistik und Sozialwissenschaften für das Lehramt, hat nach ihrem ersten Staatsexamen eine Ausbildung zur Versicherungsfachfrau absolviert und schaut nunmehr auf neun Berufsjahre in Beratung und Vertrieb zurück. Seit ihrer Ausbildung zur zertifizierten psychologischen Beraterin und Prüfung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie, unterstützt sie Menschen in herausfordernden Lebenslagen in eigener Praxis in München.

www.praxis-ruebbe.de
info(at)praxis-ruebbe.de

An der Hauptfeuerwache 4
80331 München
Tel.: 0179 / 43 36 100

FLORIAN SCHEFENACKER

Florian Schefenacker kam 1986 zur Welt und studierte Bildungs- und Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Erwachsenenbildung und Beratungspsychologie während seiner Dienstzeit als Offizier bei der Bundeswehr. Nach seinem Studium war er, bis zu seinem Verlassen der Bundeswehr im Jahr 2018, stets mit Führungsaufgaben betraut und dauerhaft im Bereich der Aus- und Weiterbildung tätig. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung zum psychologischen Berater und bestandener Prüfung zum Heilpraktiker für Psychotherapie gründete er seine eigene Praxis in Augsburg. Dort unterstützt er seitdem Menschen, die sich vor Herausforderungen und in unangenehmen Lebensabschnitten sehen.

www.praxis-schefenacker.de
info(at)praxis-schefenacker.de

Oberschönenfelder Straße 25
86199 Augsburg
Tel.: 0160 / 955 44 370

MARCUS RÜBBE

Marcus Rübbe, Jahrgang 1977, ist selbstständiger Unternehmer. Als professioneller Business Coach, Moderator und Organisationsentwickler führt er seit über 10 Jahren Einzelpersonen, Teams und ihre Führungskräfte in Unternehmen durch Entwicklungs- und Veränderungsprozesse.

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